Dieser Artikel erschien 2012 im Magazin des Deutschen Automobil Veteranen Clubs (DAVC)!

 

 

Vespa 50 N Spezial, Baujahr 1977

 -  drehschiebergesteuerter 1-Zylinder 2-Takt Motor
 -  102ccm Polini Zylinder
 -  16.16 Dell´Orto Flachschiebervergaser
 -  4-Gang Getriebe
 -  3-Scheiben Ölbadkupplung
 -  6Volt Kontaktzündung
 -  Reifen: 3.00 x 2.10 (10 Zoll)
 -  4,5L Tankvolumen
 -  Verbrauch: 2-3L / 100km, Gemisch 1:50


Die Freiheit der Landstraßen – Eine Vespareise 1000 Km quer durch Deutschland

Röhrend stirbt der Motor ab, schnell die Kupplung ziehen, falls es ein Klemmer ist. Wenn das Hinterrad blockiert habe ich kaum eine Chance. Fluchend lasse ich die Vespa am Fahrbahnrand der Landstraße ausrollen, der LKW den ich gerade aus dem Windschatten mit 90km/h überholt hatte, rauscht hupend vorbei. Irgendwo mitten in Deutschland bin ich gestrandet.
Habe ich mir einen Hitzeklemmer gefahren? Ist die Zündung defekt oder die Kerze durchgebrannt? Vielleicht hat schon wieder eines dieser Staubkörner, die man mit bloßem Auge kaum erkennen kann, seinen Weg am Luftfilter vorbei gefunden und eine Vergaserdüse verstopft. Der Motor will einfach nicht mehr anspringen. Zündfunke checken, Zündfunke ist da, der Kolben bewegt sich frei und es ist Kompression vorhanden. Soll ich den ADAC rufen? Ich weiß doch nicht einmal wo ich bin. Aufgeben kommt nicht in Frage. Also von vorn: Zündfunke checken, Zündfunke ist da, wie ein Peitschenhieb trifft er meine Hand, verdammt, zu nah an  der Elektrode angefasst. Mich verlässt der Mut an dessen Stelle sich Ärger breit macht. Ärger über die Vespa, Ärger über mich selber und meine ehrgeizige Idee, von Freiburg nach Kiel 1000 Kilometer deutsche Landstraße bezwingen zu wollen.
Und so finde ich mich auf einer Landstraße wieder, Kassel, das eben noch greifbar gewesene Etappenziel, rückt nun in weite Ferne. Vielleicht ist die Odyssee hier zu Ende. Meine Hand schmerzt immer noch vom Stromschlag der Zündkerze, als ich nach einer halben Stunde verzweifelter Fehlersuche aus reiner Routine den Tankdeckel aufschraube. Kein Kolbenfresser, kein Zündungsversagen, kein Vergaserfehler.
Der Sprit ist alle.
Zum Glück habe ich einen vollen Kanister am Trittbrett verzurrt. Kassel fliegt wieder mit 80 Sachen auf mich zu. Noch völlig paralysiert von diesem Ungeschick rutscht mir dann in einer scharfen Rechtskurve das Hinterrad weg.
Verdammt.
Unachtsamkeit, abgefahrene Reifen und Sand in der Kurve. Ich schaffe es gerade noch die Vespa aufzurichten, hart zu bremsen, um geradeaus über die Gegenspur in die Botanik abzufliegen. Hohes, weiches Gras empfängt mich. Glück gehabt, nichts passiert, keine Schäden. Time-out um Kräfte und Konzentration zu sammeln, keine weiteren Fehler mehr so kurz vor dem Ziel.  Der Knöchel hat was abbekommen, mir schmerzt der Rücken vom schweren Rucksack und noch schlimmer steht es um meinen Allerwertesten. Der Komfort des kaum gepolsterten Federsattels ist nicht für solche Strecken gedacht. Unwillkürlich muss ich laut loslachen als ich kurz darauf durch die kleine Ortschaft namens "Bösgesäß" fahre, um zwei Stunden später stolz und erleichtert, aber auch hundemüde, mein Nachtquartier in Kassel zu erreichen.

Mein Name ist Adrian, ich bin 23 Jahre alt, bei Freiburg geboren und studiere in Kiel. Seit ich denken kann, bin ich von Fahrzeugen fasziniert. Besonders von alten Fahrzeugen, die man zerlegt, wieder zusammensetzt, hegt, pflegt und fährt. Die Vespa war ein Glücksgriff. Einfache Technik, gute Ersatzteillage, günstige Unterhaltung  - das ideale Anfängerfahrzeug.
Ein Rahmen, ein völlig dreckiger Motorblock und 3 Kisten Einzelteile warteten im Keller auf ihre Wiederauferstehung.
In einer Freiburger Kneipe traf ich durch Zufall einen Freund aus Kindertagen nach vielen Jahren wieder, welcher von der Vespa erzählte. Erstmals völlig uninteressiert, fand ich nach und nach Gefallen an dem Gedanken, bald Vespa zu fahren. Aber der Kontakt zu dem Bekannten riss ab, und erst nach einem Jahr kam der Handel doch noch zu Stande. Für einen Freundschaftspreis wechselte vor mehr als zwei Jahren die zerlegte Vespa den Besitzer. Mein erster Kontakt mit rostigem Blech und verölten Motorteilen. Endlich ein eigenes Fahrzeug, denn seit ich denken kann, träume ich von der Freiheit der Landstraßen.

Die Abreise in Freiburg.
Die schwarze Vespa glänzt in der Sonne. Der Tag ist schwül, ein Gewitter kündigt sich an. Schlechtes Timing, ich hatte morgens losfahren wollen, aber Müdigkeit und letzte technische Probleme verzögern die Abreise. Kein guter Start für ein so wagemutiges Abenteuer wie dieses. Ein Kumpel hilft beim Packen und verzurrt den Schlafsack hinter dem Sitz. Der Abschied verläuft kurz, ich glaube man hält mich für ein wenig verrückt. Beim ersten Tritt springt der Motor an, klackernd greift der erste Gang des unsynchronisierten Getriebes. Die Kupplung kommt früh und die geradverzahnte Primärübersetzung singt ihr Lied. Was gibt es schöneres, als Fahrtwind in den Haaren? Aus Freiburg hinaus verfinstert sich der Himmel, bei Denzlingen schlägt der Regen urplötzlich und mit voller Wucht zu. Schon nach wenigen Sekunden bin ich völlig durchnässt. Weit und breit kein Unterstand zu finden. Die Sicht beträgt nun weniger als 20 Meter und rücksichtslose Autofahrer, die im Vergleich zu mir im Trockenen sitzen, überholen auf beiden Seiten. Unter einem kleinen Vordach in einer Einfahrt ziehe ich die Regenjacke und den Regenparka, sowie meine alten Marinestiefel an. Liegestützen halten warm und verkürzen das Warten, bis sich der Schauer legt. Doch viel besser wird es nicht. Also ziehe ich die regendichte Fliegerbrille auf und fahre weiter. So habe ich mir die Reise nicht vorgestellt. Keine 30 Kilometer nach dem Start machen sich harte Zweifel breit, ob das Vorhaben realistisch ist.
Im strömenden Regen geht es weiter durch Emmendingen nach Karlsruhe. Schon hier sollte sich eine der größten Schwierigkeiten dieser Reise offenbaren:  Bundesstraßen. Ungenau Karten und schlechte Routenplanung führten immer wieder unweigerlich zu Um- und Irrwegen. Ohne Vorwarnung verwandeln sich an vielen Stellen Bundesstraßen zu vierspurigen Schnellstraßen. Urplötzlich befand ich mich zwischen Autos und Lastern, die mit 120km/h an mir vorbei rasten. Da half es nur, schnell die nächste Ausfahrt zu erreichen, sich neu zu orientieren und sich möglichst parallel zur Schnellstraße zu halten. So musste ich oft aufwändige Umfahrungen dieser Abschnitte in Kauf nehmen. Allein Karlsruhe brachte einen Zeitverlust von einer knappen Stunde mit sich.

Endlich wieder auf einer Landstraße in Richtung Mannheim/Frankfurt beginnt die Dämmerung einzusetzen und der Regen wird wieder stärker. Im matten Licht des 15 Watt Scheinwerfers sind die Straßenschilder nun kaum mehr zu erkennen. Desorientiert, durchgefroren und hungrig, von Zweifeln geplagt, leuchtet in der Ferne ein großes rotes Schild: McDonalds. Ich bestell mir einen Kaffee mit viel Milch, die Wärme tut gut. Langsam sollte ich mir überlegen wo ich die Nacht verbringe. Verwundert sieht mich die Dame am Tresen an. " `Ocken`eim " sagt sie zum zweiten Mal, diesmal kopfschüttelnd. Ich sehe auf die Karte und fluche leise, ich bin also in Hockenheim, weit ab von der Route. Ich wollte schon längst in Mannheim oder gar Frankfurt sein. Mein Handy zeigt 10 verpasste Anrufe, man macht sich wohl schon Sorgen. Ich sehe meine Adressliste im Handy durch und rufe jeden an, den ich in der Umgebung kenne. Da! Ich erfahre, dass eine alte Bekannte nach Heidelberg gezogen ist, und bekomme durch Zufall von einem anderen Bekannten ihre Nummer. Sie ist sogar zu Hause und hat Platz für mich! Draußen ist es mittlerweile stockfinster und die Richtung nach Heidelberg ist alles andere als klar. Trotzdem erreiche ich mein Ziel nach zwei Stunden, zwei freundlichen Polizisten und vielen Schnellstraßen mit Ausfahrten, welche in Sackgassen auf unheimlichen, menschenleeren Industriegebieten enden, später.
Was für ein erster Tag!
Am nächsten Morgen scheint die Sonne, die Strecke am Neckar entlang ist malerisch. Alte Burgen und kleine Ortschaften säumen das grünende und blühende Ufer. Der Motor läuft super, 80km/h bei Dauervollgas scheint er also zu verkraften. Der Geschwindigkeitsrausch packt mich, im warmen Fahrtwind fliegt die Vespa röhrend und pfeifend über die Landstraße. Liegend, mit hinter dem Rücklicht verschränkten Beinen sind es sogar 90 Kilometer, die ich jede Stunde vorankommen kann. Nordwestlich durch die Hügel am Neckar und später an den Kasseler Bergen wird der Motor müde und braucht einige kleine Pausen zum abkühlen. Trotz Ersatzzylinder im Gepäck will ich keinen Kolbenfresser riskieren, da der Tausch mehrere Stunden beanspruchen würde. Bis auf einen kleinen Schauer im Neckartal bleibt das Wetter angenehm. Die ersten Ausschilderungen nach Kassel treten auf. Nur noch 130 Kilometer, ich bin gut in der Zeit!
Die Straße ist leicht abschüssig und gut einsehbar, der Verkehr ist dünn, es gibt kaum Seitenwind. Der LKW vor mir fährt etwa 75km/h, die Vespa kommt im 4. Gang auf Drehzahl, geschätzte 6,5Ps entfalten kreischend ihre Kraft und schieben mühsam die Tachonadel über die letzte Marke ins Kontinuum. Beim Verlassen des Windschattens prallt die Vespa abrupt gegen eine Wand aus Wind. Doch ich habe die Maschine fest im Griff und schieße mit pfeifendem Getriebe an dem Laster vorbei.

In Kassel übernachte ich bei der hübschen Bekannten eines Freundes, wir feiern meine unbeschadete Ankunft mit einigen Flaschen Bier. Am nächsten Morgen lasse ich im flatternden Fahrtwind die Kasseler Berge hinter mir. Die Abfahrten haben es in sich: Laub und Wasser in den Kehren, wenn man nicht aufpasst  neigt das Hinterrad dazu, das Vorderrad zu überholen, was ebenso gefährlich wie ein Überhitzen der kleinen Trommelbremsen ist. Aber dann ist auch diese Hürde geschafft.
Gewunden ziehen sich die Landstraßen durch Felder, Wiesen und Waldstücke, eine Ortschaft nach der anderen entschwindet im Rückspiegel. Der Motor läuft ruhig, auch der Ölverlust ist im normalen Bereich.
Dann frischt der böige Wind plötzlich auf, innerhalb von wenigen Minuten entwickelt er sich zum Sturm. Bei der Durchfahrt von Celle wirft er Äste und Laub auf die regennasse Straße. Die lange, von alten Eichen gesäumte Allee ist stark frequentiert. Stöcke, Hagel und Bodenwellen machen die Fahrt zum Spießrutenlauf. Windböen versetzten die Vespa seitlich, und zwingen sie in die Schräglage. Mehrfach verliere ich beinahe die Kontrolle. Endlich liegt Celle mit seinem schlechten Wetter hinter mir und ich fahre auf der schier endlosen, schnurgeraden Nebenstrecke durch Laubwälder und Heiden direkt auf Hamburg zu. Die Stadt empfängt mich im Abendrot. Die Elbe zu überqueren, ohne eine Schnellstraße zu benutzen, zeigt sich als  Schwierigkeit, doch glücklicherweise sind die Hamburger äußerst hilfsbereit. Nach einem unfreiwilligen Ausflug in den menschenleeren, gigantischen Ölhafen mit seinen Raffinerien und Chemiekalienlagern wegen einer Straßensperrung, sehe ich in der Ferne die Innenstadt. Noch eine Stunde Stadtdurchquerung und Straßensuche, und die größte Etappe ist geschafft, das Ziel erreicht, es gibt Abendessen bei Freunden, ein Bekannter aus Ulm ist kurzfristig zu Besuch und bereichert die Runde.
Der Norden hat mich wieder.

Am Sonntagmittag bezwinge ich die letzten 100 Kilometer nach Kiel, genau rechtzeitig zur Kieler Woche. Salzige Ostseeluft schlägt mir entgegen, überall ist Musik und buntes Licht, als ob mich die Stadt erwartet hat. Es riecht nach Imbissbuden, Jahrmarkt und dem Kohlenfeuer der Dampfschiffe. Ich kann es selber kaum glauben: Ich habe es geschafft!
Und ich werde es wieder tun.